Pressetext

Die alten Mythen aller Kulturen schlummern nach wie vor als Bilder in tiefen Schichten des kollektiven und persönlichen Bewusstseins. In einem subtilen Sinn sind wir diese Prinzen, Unberührbaren, Mönche und Nonnen - wir sind sogar der Buddha.

Am Anfang jeder Religion stand die alles Sagbare übersteigende Erfahrung eines einzelnen Menschen - Buddha, Jesus, Mohammed. Diese Menschen waren keineswegs gekommen, um eine Religion zu begründen; sie wollten nichts weiter, als anderen aus ihrer Erfahrung heraus einen Weg zu weisen. Aber als im Lauf der Jahrhunderte Schriften, Lehren und Kirchen entstanden, erstarrte die Frische der ursprünglichen Erfahrung; das können wir im Christentum ebenso beobachten wie im Islam und im Buddhismus. Wenn es uns also gelingt, aus den Schriften die Bilder wieder zu befreien und sie in uns lebendig werden zu lassen, haben wir einen von vielen möglichen Schlüsseln in der Hand: Einen Schlüssel zu der unsichtbaren Tür, hinter der unser wahres Zuhause liegt - und das ist immer nur in diesem Augenblick zu finden.

Pressestimmen

"Dies ist ein inspirierendes Buch, das nicht an eine bestimmte Tradition gebunden ist, sondern sich darüber hinaus erhebt, und dessen Lektüre Freude und Genuss bereitet und uns diesen Augenblick erleben lassen kann."
Traudel Reiß, Buddhismus aktuell

Leseprobe

Ein Zen-Meister hatte einundzwanzig Schüler. Zwanzig von ihnen waren Mönche, die einundzwanzigste war eine junge Frau namens Eshun. Die Nonne Eshun war sehr schön, obwohl ihre Robe einfach war und ihr Kopfhaar geschoren. Mehrere Mönche verliebten sich in sie; einer von ihnen wagte es, ihr einen Liebesbrief zu schreiben und sie um ein heimliches Treffen zu bitten. Bebend wartete er auf Antwort, aber als er Eshun am nächsten Tag in der Meditationshalle begegnete, behandelte sie ihn so gleichmütig wie alle anderen und tat, als habe sie nie einen Brief erhalten.

Nachdem der Meister seinen Vortrag beendet hatte, saß die Gemeinschaft noch ein paar Minuten im Schweigen beieinander. Da erhob sich Eshun von ihrem Kissen. Sie sah dem Mönch, der ihr den Brief geschrieben hatte, ruhig in die Augen und sagte mit klarer Stimme in die Stille hinein: „Wenn du mich wirklich so sehr liebst, dann komm und umarme mich jetzt!”

Ein Mönch verliebt sich in eine Nonne. Warum sollte er das nicht tun? Er lebt in einer Gemeinschaft von Männern; wahrscheinlich ist er jung, zu jung für das Gelöbnis, lebenslang Enthaltsamkeit zu üben. Vielleicht hat er das auch gar nicht gelobt; im japanischen Zen ist es Mönchen und Nonnen durchaus erlaubt, zu heiraten. Umso wahrscheinlicher also das Aufbrechen einer tief verborgenen Sehnsucht, als eines Tages eine Frau in der Gemeinschaft erscheint. Die Nonne ist schön, „obwohl ihr Kopf geschoren” ist, und auch ihre schlichte Robe kann den Eindruck ihrer Erscheinung nicht trüben. Ihre Schönheit, so wird hier angedeutet, ist nicht von äußerer Art, entsteht nicht durch die Künste eines geschickten Friseurs oder raffinierten Schneiders. Die Schönheit der Nonne Eshun ist eine innere: Durch ihre Körperhülle scheint das Licht ihrer Buddhanatur.

Wir sehen also Eshun vor uns, im ganzen Schmuck ihrer Schönheit: Ihre Herzensweite, die für alles und jeden unter der Sonne Raum hat. Ihr Verstehen, das in die tiefsten Abgründe eines Menschen blicken und die Ursachen erkennen kann, die ihn zu dem gemacht haben, der er ist. Ihr Mitgefühl, das sich vom Leiden der Welt nicht abwendet. Wir sehen aber auch ihren kristallklaren Verstand, der fähig ist, das Dharma aufzunehmen und zu durchdringen. Wir sehen ihre Stärke, mit der sie ihre Werte inmitten einer Welt verteidigt, die von diesen Werten nichts wissen will. Wir sehen, dass die Praxis, die sie da gefunden hat, ihr Freude macht; eine Freude, die sie unbedingt in anderen Menschen erwecken möchte, scheinen sich doch die meisten Menschen in Depression und Zweifel, Resignation und Aggression zu verlieren. Eshuns Erfahrung des Dharma ist so tief, dass sie schon längst nicht mehr die Worte ihres Meisters zitiert, sondern die Lehre in ihren eigenen Worten vermittel t n kann. Vor allem aber berührt und lehrt sie andere durch ihr eigenes Sein: Wenn sie durch den Garten geht, verändert sich auf einmal die Atmosphäre. Die Sonne scheint wärmer zu sein, die Blumen scheinen intensiver zu duften. Frieden breitet sich aus, und die Menschen beginnen zu lächeln, absichtslos und natürlich.

Wir verstehen, dass die Mönche sich reihenweise Hals über Kopf in diese Frau verlieben.

Und nun schreitet einer von ihnen zur Tat. Die Konkurrenz schläft nicht, er muss sich also etwas einfallen lassen, auch wenn sein Einfall dann nicht gerade originell ist: Er schreibt einen Brief. Was wird er ihr geschrieben haben? Nach aller Erfahrung gleichen sich Liebesbriefe über die Jahrhunderte und Länder hinweg in erstaunlicher Weise. Er wird also von ihren schönen Augen gesprochen haben und von seiner Sehnsucht; er wird ihr ein Treffen vorgeschlagen haben („morgen Nacht um elf an der großen Kiefer”) und vor Aufregung kein Auge zugemacht haben.

Und dann - nichts. Eshun schweigt. Nimmt ihren Platz im zendo ein, so gelassen wie immer. Lauscht den Belehrungen des Meisters, als gäbe es nichts Wichtigeres auf der Welt. Der Mönch dagegen hört von der Lehre an diesem Tag nichts. Was schert ihn das Dharma, er ist verliebt. In eine, die ihn offensichtlich nicht wiederliebt. Ein junger Mönch versinkt auf seinem Kissen in Gram.

Aber dann steht sie auf. Ungebührlich, ein Schüler erhebt sich nicht, solange der Meister im Raum ist, es sei denn, um ihm Ehre zu erweisen. Jetzt beginnt sie auch noch zu sprechen, diese Frau wagt viel. Sie mag eine gute Zen-Schülerin sein, eine gehorsame Nonne ist sie nicht. Zweiundvierzig Männeraugen richten sich auf sie, die hocherhoben im Raum steht. Man muss sich tatsächlich gut überlegen, ob man als Mönch mit dieser Frau in Verbindung gebracht werden will. Sie dreht sich um und blickt dem Briefschreiber voll ins Gesicht. Und sagt: „Wenn du mich wirklich so sehr liebst, dann komm und umarme mich jetzt!”

Wann sonst - wenn nicht jetzt ...?

Die Geschichte von Eshun ist reines Zen, denn sie gibt uns eine Lehre über den Unterschied zwischen Traum und Wirklichkeit, in diesem Fall also: den Unterschied zwischen Verliebtheit und Liebe. Jeder von uns zieht sich hin und wieder in einen schönen Traum zurück, wenn die Gegenwart zu eintönig erscheint und wir das Interesse an dem, was gerade ist, verlieren. In solchen Momenten pflegt sich still und leise ein kleines Gedankengebilde in die Lücke in unserem Geist zu schleichen, die wir durch unsere Unachtsamkeit geschaffen haben. Und weil dieses kleine Gedankengebilde sehr viel attraktiver erscheint als die Gegenwart, heftet sich unser Geist an seine Fersen und folgt ihm wie die Kinder dem Rattenfänger von Hameln. Das Träumen an sich ist dabei kein Problem, auch das darf Platz haben in unserem Leben. Problematisch ist, dass wir häufig Traum mit Wirklichkeit verwechseln.

Den Traum erkennt man leicht an seinem Schauplatz. Der Traum sagt: „Damals, als ...” oder: „Wenn, dann ...”. Er spielt in der Vergangenheit oder in der Zukunft, er heißt „morgen Nacht um elf an der großen Kiefer”. Aber „morgen Nacht” ist nicht real. Vielleicht wird es für den jungen Mönch die morgige Nacht gar nicht geben, vielleicht fällt ihm, wenn er aus dem zendo tritt, ein Ast auf den Kopf, und er ist tot? Die Wirklichkeit dagegen können wir in einem Wort zusammenfassen: Jetzt!

Was aber ist „Jetzt”? Können wir „Jetzt” erfahren in seiner ganzen Fülle, mit allen Sinnen und jeder Faser unseres Körpers? Oder machen wir auch das „Jetzt” zu einem Traum, indem wir das, was ist, mit dem uns schon Bekannten vergleichen, es bewerten oder zurückweisen, weil es uns nicht gefällt?

In einem zendo im alten Japan steht eine Nonne mit hoch erhobenem Haupt inmitten einer Schar sitzender Mönche und richtet ihren klaren Blick auf den Mönch rechts außen, den in der letzten Reihe. Der würde vor Scham am liebsten in den Boden versinken. So verbindlich hat er das Ganze nicht gemeint; er hat für Eshun geschwärmt (die Schwärmerei ist ihm gründlich vergangen), und die Heimlichkeit des Ganzen hat seine Phantasie noch beflügelt. Wie kann diese Nonne seinen Traum so brutal ans Licht zerren?

Die Nonne Eshun aber ist nicht an Träumen interessiert. Von Liebe war die Rede, und ist nicht Liebe die beste Lehrerin für ein Sein im Jetzt? Wenn ich in den Augen des Geliebten versinke - wo ist da die Zeit? Ich erinnere mich nicht an vergangene Lieben, ich sehne keine zukünftigen herbei, ich bin im Hier und Jetzt voll und ganz präsent. Aber ich weiß nichts von meinem Präsentsein, ich weiß auch nichts von „mir” und „dir” und „mein” und „dein”. Die Zeit hält den Atem an, sie hat aufgehört zu existieren. Dieser Augenblick ist die Unendlichkeit - aber ich weiß nichts davon, denn ich selbst bin unendlich in ihm. Da ist nur Schauen und Leuchten, Lauschen und Atmen, Pulsieren und Vibrieren. Da ist kein Ich, das dieses Schauen, Leuchten und Lauschen erfährt.

Wenn es aber im Jetzt kein Ich gibt - wer sollte da etwas zu verbergen haben, und wo? Wer könnte sich schämen? Wer etwas zurückhalten, leugnen?