Aus dem Vorwort

Wer sich mit Antworten, die für andere gut funktionieren, nicht zufriedengibt und Probleme sieht, wo andere Menschen sich wohlfühlen, wird gern als eigensinnig angesehen, und wir wissen, dass diese Bezeichnung im Allgemeinen nicht freundlich gemeint ist. Die Tiefenpsychologie jedoch weiß seit Langem, dass die sensiblen und schöpferischen Menschen die Vorläufer sind für kollektive Entwicklungen. Es ist immer der einzelne Mensch, der sich, beunruhigt von inneren oder äußeren Geschehnissen oder einfach nur einer „Stimmung“, einem „Gefühl“, auf den Weg und die Suche macht.

Es gibt eine Art des Unterwegsseins, die schon viele Sinnsucher auf die Straßen der Welt geschickt hat, und sie kamen als Verwandelte zurück: die Pilgerschaft. Was aber macht eine Reise zur Pilgerschaft? Wir können den Jakobsweg in voller Länge absolvieren und doch keine Pilger sein. Wir können alle vorgeschriebenen Stationen passiert haben, und doch ist unser Geist immer noch der alte. Wenn Pilgern uns nicht zutiefst verwandelt, sind wir nur spazierengegangen. Pilgern ist also eine Bewegung in Herz und Geist, und die äußere Fortbewegung ist nur das Mittel, das diese Verwandlung möglich macht. Deshalb können wir Pilger sein, auch wenn wir uns eine Pilgerreise zeitlich, gesundheitlich oder finanziell nicht leisten können. Unser eigenes Leben ist die Landschaft, die wir als Pilger durchwandern, und sie wird dieselben Überraschungen, Abenteuer, Abgründe und Freuden für uns bereithalten wie der Jakobsweg.

Pressestimmen

„Die Schriftstellerin und Lyrikerin Margrit Irgang legt in ihrem neuen Buch Reflektionen über das Gehen auf einem Pilgerweg vor. Dies ist kein Buch im Stile von 'Zen und die Kunst Karriere zu machen' – ganz im Gegenteil ermutigt es uns, alle Karrieren, weltliche wie spirituelle, loszulassen und uns auf unseren ganz eigenen authentischen Pilgerweg zu begeben. Margrit Irgang ist schon lange auf diesem Weg und besonders vom japanischen Zen, von der Thich Nhat Hanh Schule und natürlich vom Leben und den Schwierigkeiten des Überlebens einer Künstlerin geprägt. Die Kapitel heißen: 'Sinn und Eigensinn, Aufbruch, Unterwegs, Landschaften, Unterwegs, Heimkehr'. Es geht hier nicht um eine äußerliche Reise nach irgendeinem Rom oder Kailash, sondern um die Fragen, die sich uns auf einem lebenslangen Laienweg in die Hauslosigkeit stellen, von Verwirrung über Ekstase zu Verzweiflung zu Ent-Täuschung und vielleicht sogar zu tiefem inneren Frieden.“

Munish B. Schiekel, „Buddhismus aktuell“ 4/2010

Leseprobe

Von verbotenen Türen und Apfelbäumen

Sie lebten im Garten, und ihr Leben war gut. Die Bäume hingen voller Früchte, sie brauchten nur zuzugreifen. Freundliche Tiere mit sanften Augen teilten ihre Tage, und aus den Blumen, die in Fülle wuchsen, flocht die Frau für sich und den Mann kleine Kränze. Ein Mehr an Bekleidung war nicht nötig, Sonne und warmer Wind umhüllten ihre Körper wie eine zweite Haut. Sie hatten das Wort Liebe nie gehört. Sie lagen einfach aneinandergeschmiegt im hohen Gras, zogen mit behutsamem Finger jede Linie im Gesicht des anderen nach, die Nasenfalte, den Schwung des Mundes. Die Augen des anderen waren Teiche, in denen die eigenen Augen versanken. Die Kehle war ein Instrument, aus dem die erstaunlichsten Klänge kamen. Sie gaben den Käfern Namen, zählten die Sterne und vermissten nichts. Lange kümmerten sie sich nicht um das eine Verbot, das ausgesprochen worden war. Ihr Leben war ein großes Ja, der Augenblick war die einzige Zeiteinheit, die sie kannten. Aber die Schlange, viel älter als sie, wusste um die ungreifbaren Qualitäten Vergangenheit und Zukunft. Und das Verbot erschloss die Zukunft, die bedrohliche wie die verheißungsvolle. Lautlos glitt die Schlange zwischen die Körper von Frau und Mann und begann ihr Werk.

Als ich die Geschichte von der Vertreibung aus dem Paradies im Religionsunterricht von Schwester Felicitas zum ersten Mal hörte, trieb mich die Frage um: Warum hat Gott dem Adam und der Eva verboten, von jenen Früchten zu essen? Schwester Felicitas, eine zauberhafte und gütige Diakonisse, die vermutlich nie in ihrem Leben der Bibel eine Frage gestellt hat, hielt mir einen kleinen Vortrag über die Pflicht, Vater und Mutter Gehorsam zu erweisen. Ja sicher, sagte ich, das viel zu gehorsame Kind, gequält. Aber warum hat er den Baum nicht einfach woanders gepflanzt?

Zur selben Zeit bekam ich ein Märchenbuch geschenkt und las die Geschichte einer jungen Frau, die durch die endlosen Gänge ihres Schlosses läuft. Vor kurzem erst hat sie geheiratet, einen erheblich älteren Grafen, der einen unheimlichen blauen Bart hat, aber dafür ist er reich. Sein Schloss ist zugegebenermaßen ziemlich düster, aber immerhin hat es Hunderte Zimmer. Keine ihrer Freundinnen hat eine so gute Partie gemacht. Die junge Frau läuft mit dem Schlüsselbund, den der verreiste Gatte ihr ausgehändigt hat, durch das Gemäuer und öffnet Tür um Tür. Sessel, Sofas, wuchtige Möbelstücke. Sie ist etwas enttäuscht, sie hatte mehr erwartet: Silber, Gold, Rubine und Diamanten. Schließlich steht sie vor der einen Tür, die zu öffnen er ihr ausdrücklich verboten hat, und zögert. Ach was, sagt sie sich, er wird es nie erfahren, und steckt den Schlüssel ins Schloss. In der Kammer ist es so dunkel, dass sie eine Kerze entzünden muss. Als sich ihre Augen an das Dämmerlicht gewöhnt haben, sieht sie einen Berg von blutüberströmten Frauenleichen. Hastig verschließt sie die Tür von außen. Der Schlüssel in ihrer Hand aber ist voller Blut, das sich mit keinem Mittel entfernen lässt.

Warum hat Blaubart seiner Frau den Schlüssel zu dem verbotenen Zimmer ausgehändigt? Wollte er seiner Frau wirklich das düstere Geheimnis vorenthalten? Dann hätte er den Schlüssel vor seiner Reise vom Bund nehmen können. Es hätte kein Verbot gegeben und somit keinen Ungehorsam. Was also sollen wir halten von Geschichten, in denen jemand vorsätzlich in eine Versuchung geführt wird?

Ich kann nur einen Schluss daraus ziehen: Der Ungehorsam ist einkalkuliert und von der Evolution erwünscht. Denn es ist der Ungehorsam, der die bestehenden Verhältnisse aufbricht und neue Möglichkeiten eröffnet. In der Sicherheit des Altvertrauten wird irgendwann keine Erkenntnis mehr gewonnen, nichts Neues mehr erfahren. Und wir verlieren die Kraft, die uns befähigen würde, unser Bewusstsein zu erweitern. An diesem Punkt unserer Entwicklung müssen wir uns in Unsicherheit begeben, einen Schritt vorwärts tun, etwas Unbekanntes ausprobieren. Es gibt das Sprichwort „Wer zur Quelle will, muss gegen den Strom schwimmen“. Das Gegen-den-Strom-Schwimmen wird immer wieder die einzig mögliche Fortbewegung sein für die Eigensinnigen, die sich nicht mit einer oberflächlichen Erkenntnis zufriedengeben. Was wir unter „Quelle“ verstehen, mag durchaus unterschiedlich sein. Für die einen ist es die Wahrheit der gegenwärtigen Situation, für andere die Buddhanatur oder das Göttliche. In jedem Fall lohnt es sich, die Quelle zu finden; wir sollten uns nicht mit weniger zufriedengeben.

Niemand kann stellvertretend für uns ungehorsam sein. Erst wenn wir uns dazu entschließen, eine gesetzte Grenze zu überschreiten, gewinnen wir die Kraft, unseren Weg in eigenständiger Weise fortzusetzen. Carl Gustav Jung nannte diesen Prozess Individuation: Wir lösen uns von den Vorschriften des Kollektivs, dem wir angehören, und folgen den Anweisungen unseres Selbst, um die zu werden, die wir im Tiefsten sind.